Fjodor Michailowitsch Dostojewskij
Der Großinquisitor
Lesung am 19. Februar 2006 in der Winterkirche Lippoldberg
Fjodor M. Dostojewskij
Die Legende vom Großinquisitor ist eingebettet in Dostojevskijs letzten großen Roman "Die Brüder Karamasow". Die Brüder Karamasow ist ein Familiendrama, eine Kriminalgeschichte, eine religions-philosophische Abhandlung und vieles mehr. Dieser Roman gilt als eine Art Quintessence des Dostojevskijschen Werkes.
Die Handlung kreist um drei Brüder, die zwar äußerlich sehr verschieden, aber alle von tiefer Leidenschaft ergriffen sind. Dimitri, der älteste, ist Soldat. Ivan, der die Universität besucht hat, verkörpert den Intellektuellen. Aljoscha schließlich ist Mönch und lebt aus einer tiefen Gläubigkeit . Alle drei Brüder stehen im Konflikt mit ihrem moralisch verkommenen Vater Fjodor.
Dostojevskijs Roman enthält eine Fülle tiefer Gedanken über die christliche Religion. Ivan steht hierbei für den Intellektuellen, westlich denkenden Zweifler an Gott und an allen Werten, der sozusagen an der Aufklärung erkrankt ist. Seine Zweifel treiben ihn bis an den Wahnsinn, bis er sich von einem mittelmäßigen Teufel verspottet glaubt.
Im 5. Buch des Romans lässt Dostojevskij (1821 - 1881) den mittleren der Brüder, Ivan (24 Jahre) sein unveröffentlichtes Poem "Der Großinquisitor" seinem 4 Jahre jüngeren Bruder Aljoscha erzählen.
Ivan ist von euklidischem Verstand geprägt und hat im Kapitel zuvor seine "Eintrittskarte zur Seligkeit" wegen der Leiden von Kindern in der Welt zurückgegeben….und nun lässt er Jesus Christus wieder zurückkehren in die Welt - in das Spanien des 16.Jh., zur Zeit der Inquisition, in der wöchentlich für schuldig befundene Ketzer in einem großen öffentlichkeitswirksamen Spektakel (Autodafé) auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden.
Vor diesem Hintergrund wirft Ivan Fragen auf, die zeitlos aktuell unsere Auseinandersetzung herausfordern:
- hat Christus angesichts des unermesslichen Leides auf dieser Welt (Problem der Theodizee (Rechtfertigung Gottes) heute noch ein Wirkungsfeld und eine Daseinsberechtigung?
- Dürfen Menschen, die sich im Besitz höheren, "besseren" Wissens glauben, die unmündige Masse zum ungewollt-unverstandenen Glück zwingen?
- Wie wird Jesus der mit "eiserner Logik" vorgetragenen Lebens-Philosophie des Großinquisitors begegnen?
Der Großinquisitor ist ein alter, ebenso lebenserfahrener wie lebensmüder Mann. Er seziert die menschliche Seele und die menschliche Natur mit schonungsloser Präzision. Die viel gepriesene Freiheit nach der sich der Mensch angeblich sehnt, führt er mit wenigen Beispielen ad absurdum.
Diese im Kernteil als "dramatischer Monolog" verfasste Legende richtet sich gegen den "allein seligmachenden" Anspruch der römisch-katholischen Kirche… und wird von Dostojevskij selbst als ein Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens bezeichnet.
Gerd Zimmermann
Mit der Lesung "Der Großinquisitor" war Dr. Gerd Zimmermann, Slawist und Anglist aus Göttingen zum zweiten Mal in der Winterkirche in Lippoldsberg zu Gast. Er hält damit sein im vergangenen Jahr gegebenes Versprechen, erneut einen russischen Leseabend zu anzubieten, diesmal mit einer Erzählung der "Weltliteratur".
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