Schwellen und Portale
Schwellen
Schwellen sind von Natur aus sensible Bereiche, kritische Zonen:
Wer zum Beispiel aus dem Schutz des Waldes heraus ein freies Feld betritt, ist auf einmal - auch für mögliche Feinde - weithin sichtbar. Und wer vom freien Feld in den Wald geht, kann nicht wissen, welche Gefahren dort im Dickicht auf ihn lauern.
Schwellen zu überschreiten, ist heikel, aber Grenzen verheißen immer auch etwas Neues. Aufgrund dieser Ambivalenz galten Grenzen früher als heilig. Das heißt, normalerweise achtete man die Grenzen und vermied es, sie zu überschreiten. Sie waren "tabu". Zuweilen suchte man aber auch bewusst solche Grenzzonen und Tabubereiche auf, weil man wusste, dass man dort etwas Anderem, etwas Fremden, Unbekanntem begegnen konnte.
Irische Palisaden-Wallanlage
Solche natürlichen Grenzzonen, die oft als heilige Orte dienen, sind zum Beispiel:
- der Berg - als Grenzpunkt zwischen Himmel und Erde
- die Küste - als Grenzlinie zwischen Land und Wasser
- der Fluss - als Grenzlinie zwischen Diesseits und Jenseits
- die Quelle - als Grenze zwischen Erde und Unterwelt
- die Höhle - als Grenzort zwischen Erde und Unterwelt
- der Waldrand - als Grenzort zwischen Überschaubarem und Undurchschaubarem; Bewussten und Unbewussten
Bis heute werden solche natürlichen Landschaftsgrenzen bei der Anlage heiliger Stätten genutzt; zugleich haben die Menschen aber auch künstliche Schwellen, indem sie einen heiligen Bezirk durch eine Einfriedung ausgrenzen.
Besondere Bedeutung kommt in der Einfriedung dem Tor zu, das Zugang gewähren, aber auch versperren kann. Im Tor bzw. in der Tür verdichtet sich die künstlich geschaffene Grenze.
Kein Held geht einfach so durch das Tor eines geheimnisvollen Schlosses. Er wird zuvor innehalten, sich selbst überprüfen und spekulieren, was sich hinter der Tür verbirgt.
Diese irische Kapelle ist nur
über einen Wall zu erreichen
Das Tor zum bretonischen Enclos kann
niemand unbewusst durchschreiten
Durch ihre Ambivalenz sind Tore und Türen selbst schon heilige Orte, und es ist nicht verwunderlich, dass man in allen Religionen die Tore von Sakralbauten symbolisch gern besonders gestaltet.
Portale
Schwellen, Schleusen, Schranken, Stufen
Die Kinder von Bhaktapur
haben sich an die mächtigen
Tempelwachen gewöhnt
Oft führt der Weg in ein Heiligtum durch ein eindrucksvoll, manchmal auch einschüchternd gestaltetes Portal.
Man muss zuweilen viele Stufen erklimmen und an deren Ende übermächtig schwere Türen öffnen. Dabei begegnet einem an den Gewänden und im Sturz des Portals ein großes Aufgebot von Schwellenwächtern.
In Hindutempeln sind das oftmals furchterregende Tiergestalten, in Kirchen strengblickende Patriarchen und heilige Märtyrer. Das alles soll deutlich machen:
"Nimm dich in Acht!
Dies ist ein besonderer Ort, eine heilige Stätte.
Hier sollte niemand unbereitet hineingehen!"
Der Gang durch ein mittelalterliches Bildportal ist wie ein Weg durch den Tod zum Leben, wie der eingeschüchterte Adson in "Der Name der Rose" eindrücklich zeigt:
"Kaum dass meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, traf mich wie ein Schlag die stumme Rede des bebilderten Steins, die den Augen und der Phantasie eines jeden verständlich ist (denn pictura est laicorum literatura), und stürzte mich tief in eine Vision, von der meine Zunge noch heute nur stammelnd zu berichten vermag." (Umberto Eco mit den Augen des Adson von Melk)
Gerichtsportal
in Conques-en-Rouergue
Frankreich
Moderne Menschen sind oft irritiert über die erschreckenden Wächtergestalten und nehmen die künstlich erschwerten Zugangsbedingungen (besondere Kleiderordnung o.ä.) nur ungern auf sich.
Wer sich aber der "Schwellenpädagogik" eines heiligen Ortes nicht unterwirft, sondern - wie manchmal bei Touristen zu beobachten - einfach so "reinlatscht", wird womöglich das Geheimnis, um dessentwillen das Haus gebaut wurde, nicht finden.
Die Botschaft der ehrfurchtgebietenden Portale lautet: Religion ist gefährlich.
Und wenn die Gefahr vielleicht auch nur darin besteht, dass man die Chance, die in der Religion liegt, verpasst: Die Chance, bewusster und tiefer zu leben.
Wenn in dem Bogenfeld über dem Türsturz (Tympanon) mit Vorliebe Szenen vom großen Weltgericht dargestellt wurden, dann steckte darin neben der symbolischen Verbindung (Tor als Ort der Entscheidung) auch eine einschüchternde Pädagogik: Wer im Gericht bestehen wollte, der musste den Weg in die Kirche wählen.
Moderne Kirchenkonzepte, zum Beispiel Sakralräume in Gemeindezentren, versuchen eher, die Schwellen zu entschärfen:
- Stufen werden durch (rollstuhlgerechte) Rampen ersetzt
- Elektrische Türöffner erleichtern den Zugang
- Glastüren lassen den Übergang von außen nach innen fließend erscheinen.
Dahinter stehen theologische Ideen wie auch strategische Überlegungen, kirchlich entfremdeten Menschen den Eintritt zu erleichtern. Man orientiert sich z.B. an Eingangsbereichen von Einkaufszentren, die durch Glasbauweise Einblick ins Innere gewähren und auf einen ebenen Zugang ohne Stufen großen Wert legen.
Da es viele Möglichkeiten gibt, von Gott zu reden, sollte man die Architektur nicht dogmatisch festlegen. Die Schwellenvariante schreckt Outsider ab. Bei der schwellenlose Variante ist der Zugang leicht; es wird aber auch kein innerer Prozess angestoßen, keine Entscheidung verlangt, wenig Spannung aufgestaut.
Als Regel gilt aber in jedem Fall: Schwellen müssen überwindbar sein; das heißt - sie müssen gangbar gemacht werden. Wenn eine Kirche schon verschlossen ist, sollte sich mindestens ein Hinweis finden, wo ein Kirchenschlüssel zu bekommen ist.