Pilgern
Es ginge alles besser, wenn man mehr ginge!
Wenn wir als Touristen durch die Welt reisen, dann suchen wir etwas, was wir zuhause nicht haben: eben "das Andere". Das können elementare Erlebnisse sein wie Wasser, Wärme, Wind und Strand - oder auch fremdartige Eindrücke und exotische Abenteuer. In jedem Fall überschreiten Reisende ihre vertrauten Grenzen, um den eigenen Horizont etwas weiter zu stecken.
Wasser, Wärme, Wind und Strand ...
Das haben die Touristen von heute mit dem Pilgern früherer Zeiten gemein, auch wenn uns die religiösen Wurzeln des Reisens in der Regel meist nicht bewusst sind. Religion hat mit Grenzerfahrungen zu tun, mit Fragen, die über uns selbst hinausgehen, mit der Suche nach dem Anderen, dem Jenseits des Bekannten.
So ist es kein Wunder, dass Menschen zu allen Zeiten Reisen unternommen haben, die keinem äußeren Zweck (wie Krieg oder Handel), sondern allein der Entwicklung der eigenen Seele dienten. Religiös motivierte Reisen wie die Visionssuche in den Naturreligionen, die Wallfahrt zu heiligen Stätten oder die Pilgerschaft als Lebensform, wie sie z.B. von irischen Wandermönche geübt wurde. Diese Formen der Pilgerschaft mögen sehr verschieden sein, letztlich steckt aber in allen etwas Verbindendes, eine "Urgebärde der Menschheit".
Pilgerstätte Lourdes
So alt wie das Wallfahrtswesen ist freilich auch die Kritik an missbräuchlicher Praxis. Denn es waren keineswegs immer nur edle Beweggründe, die Menschen in die Ferne trieben. Manche ergriffen mit dem Pilgerstab einfach eine Gelegenheit, um der strengen Zucht des heimatlichen Lebens zu entgehen und verhielten sich in der Fremde recht zügellos.
Darum wendet sich z.B. der Kirchenvater Gregor von Nyssa gegen die Pilgerei: "Erteile, mein Lieber, den Brüdern den Rat, sie sollten ihren Leib verlassen und so zum Herrn pilgern und nicht von Kappadokien nach Palästina."
Der islamische Mystiker Hazrat Inayat Khan schildert, wie die hochgesteckten Erwartungen von Pilgern am Ziel oft enttäuscht werden:
"Ich suchte Dich, doch konnte ich Dich nicht finden.
Ich rief laut nach Dir vom Minarett.
Ich läutete die Tempelglocke beim Aufgang und Untergang der Sonne,
ich badete vergebens im Ganges,
enttäuscht kam ich von der Kaaba zurück.
Ich schaute mich um auf der Erde,
ich suchte nach Dir im Himmel, mein Geliebter,
aber zuletzt habe ich Dich gefunden
als verborgene Perle in der Muschel meines Herzens."
Hinduistische Pilger beim Bad im Ganges
Der äußere Weg des Pilgerns ist nicht so wichtig wie die innere Bewegung. Denn die entscheidenden Einstellungsveränderungen, auf die jede Religion zielt, vollziehen sich im Verborgenen, in der menschlichen Psyche.
Die Reformatoren machten deshalb Schluss mit heiligen Orten und verehrungswürdigen Reliquien, von deren Besuch die Kirche den mittelalterlichen Christen so übermäßig viel versprochen hatte. Der Protestantismus lenkte die Aufmerksamkeit der Christen nach innen, auf den persönlichen Glauben.
Wallfahrt als eine heilsnotwendige Pflichtübung kann es in einer evangelischen Kirche nicht geben. Aber natürlich bleibt die Möglichkeit, auf Wanderschaft zu gehen, um Erfahrungen zu sammeln auf dem Weg des Glaubens.
Auch für Christen, die - ihrer religionskritischen Grundhaltung folgend - keine besonders "Heiligen Orte" anerkennen, kann es doch gut sein, aufzubrechen, Vertrautes hinter sich zu lassen, bei der gleichförmigen Bewegung des Laufens zur Ruhe zu kommen und sich Zeit zu nehmen für die eigene Seele. Ein äußerer Pilgerweg kann durchaus Anstöße geben für die innere Entwicklung.
Darum gab und gibt es auch in der evangelischen Kirche Wallfahrten, obwohl diese Bezeichnung meist vermieden wird. Der Besuch von Kirchentagen, ein Ausflug zu den Lutherstätten oder eine Israelreise entsprechen dem Profil von Pilgerfahrten, wobei typisch protestantisch das Bildungsinteresse meist das auslösende Motiv ist.
Seit etwa zwei Jahrzehnten versuchen evangelische Christen, aber auch das Unterwegssein selbst als eine Form geistlicher Übung wiederzuentdecken.
Auf dem Jakobsweg ...
Die evangelische Bildungsstätte Kloster Germerode zum Beispiel bietet regelmäßig Pilgerwege an. Mit dem Pilgerweg Loccum-Volkenroda hat die Evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers nun einen rund 300 Kilometer langen, ausgeschilderten Weg installiert, der zu einer Spurensuche mittelalterlicher Klosterspiritualität einlädt. Dieser Weg führt auch durch einige der Oberweser- und Wahlsburggemeinden.