Estomihi - Karneval
Das Kirchenjahr ist kontrapunktisch komponiert. Den großen Festen gehen Bußzeiten mit asketischen Übungen voran; der strengen Fastendisziplin aber wiederum eine Zeit der Ausgelassenheit. Der Kontrast lässt die jeweilige Prägung der verschiedenen Zeiten besonders aufleuchten.
Dass der Karneval von seinem Gegenstück, der Fastenzeit nicht zu trennen ist, macht schon der Name deutlich. "Karneval" geht auf das mittelalter-lateinische "carnelevare" zurück, wobei "carne" "Fleisch" und "levare" "wegnehmen": bedeutet. Der Name bezieht sich also, wie "Fastnacht", auf die dem Fest folgende Fastenpraxis. Ähnliches gilt für das bayerisch-österreichische Wort "Fasching", er geht auf den "vastschanc" zurück, den Ausschank eines als Fastentrunk gebrauten Starkbiers.
Karneval - Giovanni Battista Tiepolo
Luther wetterte gegen den Karneval als "der Christen Bacchanali". Und weil die Reformatoren mit den Fastengeboten auch den Gegenpol aufhoben, starb das närrische Treiben in den protestantischen Gebieten fast völlig aus. Inzwischen werden die alten Fastenbräuche in der evangelischen Kirche neu entdeckt.
Nur mit dem Karneval tut man sich schwer; ebenso mit ausgelassenen Osterfeiern, bei denen der Tod richtig verlacht würde. Lachen scheint für viele nicht vereinbar mit der Würde und dem Ernst des Glaubens. Aber: Wie will man fasten, wenn man nicht auch ausgelassen zu feiern versteht? (Mk 2,19)
Biblische Lesung
(1.Kor 13,1)
Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete
und hätte die Liebe nicht,
so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle.
Interpretation
Lachen erzündet sich an Ungereimtheiten, am Unpassenden.
Der Clown mit den zu langen Rockschößen, über die er immer stolpert, der in sein Instrument bläst - aber es kommt kein Ton ... und wenn, ist es der falsche.
Gerade die Religionen, in denen ja ideale Werte hochgehalten werden, haben immer auch Anlass zum Spott gegeben. In jeder menschlichen Organisation lassen sich Missstände finden, die einfach komisch sind. Eine Kirche, die über sich selbst zu lachen versteht, erkennt ihre Gebrochenheit an, ohne damit die anstrebenswerten Ideale aufzugeben.
Humor hat durchaus etwas Heilsames, wenn sich die Spannungen, in denen wir stecken, durch die Erschütterungen des Lachens (wie des Weinens) - zumindest für eine Weile - auflösen.
Wo Ironie in den Sarkasmus und Zynismus abrutscht, kann das Auslachen auch eine alles nivellierende und zersetzende Kraft gewinnen. Wenn zum Beispiel eine Religion von außen lächerlich gemacht wird, geschieht das oft, um sich die in ihr enthaltene Wahrheit von Leibe zu halten. Kirchenvertreter haben deshalb oft versucht, das Lachen ganz zu unterbinden, weil ihnen die verkehrte Welt der Narren mit dämonisch-zerstörerischen Kräften allzu verwandt schien. Sie haben dabei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet ohne jedes Gespür, dass es Menschen von Zeit zu Zeit gut tut, das Zaumzeug von Disziplin und Vernunft einmal abzulegen.
Andererseits verlangt das Narrenspiel nach einer Grenzsetzung, an der der Spaß vorbei ist. Umkehrrituale setzen zwar vorübergehend anarchische Kräfte frei, wollen aber die Welt nicht dauerhaft ins Chaos stürzen. In der Verkehrung wird die bestehende Ordnung kritisiert und relativiert, bleibt jedoch - sozusagen im Negativabdruck - erhalten. Wer erlebt hat, dass alles auch ganz anders sein kann, erkennt spätestens mit dem Katzenjammer am Aschermittwoch auch wieder die Vorteile der normalen Ordnung.
Franz von Assisi
In der Welt der Religion gibt es aber auch eine radikalere Tradition der Narren. Heiligkeit und Wahnsinn lagen in archaischen Kulturen oft nahe beieinander; geistig Behinderte galten als Offenbarungsmittler und waren unter besonderen Schutz gestellt.
Bisweilen nahmen Menschen die Rolle des "heiligen Narren" ganz gezielt in Anspruch, um gegen gesellschaftliche Missstände auftreten zu können. So ging der Prophet Jesaja drei Jahre lang nackt und barfuß durch die Straßen, um seiner Botschaft Nachdruck zu verschaffen (Jes 20,3). Paulus bezeichnete sich selbst als "Narr in Christo" (1.Kor.4,10-13; 2.Kor.11,16-33; 12,11), um der Welt einen Spiegel ihrer Verrücktheit vorzuhalten. Und "Heilige" wie Franz von Assisi und Philipp Neri machten sich mit ihrer aus dem Glauben entspringenden Freiheit und ekstatischen Lebensfreude zum Gespött der Leute.
Kontext
Narrenspiele im mittelalterlichen Frankreich
In der Chronik der Stadt Laon, Melleville, wird aus dem 13. Jahrhundert von Narrenspielen berichtet, deren Schauplatz die Kathedrale war.
"Mit noch größerer Extravaganz wurde das Fest der Narren gefeiert. Am Vorabend des Festes der heiligen Drei Könige, nach der Prim, versammelten sich die Kaplane und Vikare und wählten aus ihrer Mitte den Patriarchen der Narren.
Nachdem er gewählt war, überreichte das Kapitel ihm sowie seinen Freunden Wein und Brot und eine Summe von acht Pariser Pfunden oder mehr, um die Kosten eines Mahls zu bestreiten. Die einen maskierten sich, die anderen vermummten sich mit den groteskesten Gewändern, die man sich vorstellen kann: es waren Kostüme halb aus geistlichen Habiten, halb aus Gewändern des Theaters zusammengeflickt, oder eine Mischung aus Männer- und Frauenkleidern.
Nach den unanständigsten Scherzen in der Kirche marschierte das Gefolge in Prozession durch die Stadt, mit Fackeln und Wachslichtern.
Der Streit des Karneval mit dem Fasten - Pieter Brueghel
Das Fest der Narren dauerte zwei Tage, am Vorabend und am Tag der Epiphanie. Der Gottesdienst dieser beiden Tage war den Narren ausgeliefert, die ihn mit Grimassen, Verrenkungen der Glieder und quoblibets ohne Zahl feierten. Demjenigen, der die größten Extravaganzen beging, wurde am meisten applaudiert.
Die Narren verbreiteten sich dann in den Straßen, hielten sich auf den öffentlichen Plätzen auf und machten Scherze, um das Volk zu unterhalten. Das Fest wurde beendet durch ein Schauspiel, das man in der Kirche aufführte: das Thema war immer aus der heiligen Schrift genommen; aber die Mysterien wurden hier auf schalksnärrische und lächerliche Art dargestellt." (Hans Sedlmayr: Die Entstehung der Kathedrale - S. 44 f.)
Gedanken
"Je unpoetischer eine Nation oder Zeit ist, desto leichter sieht sie Scherz für Satire an, so wie sie nach dem vorigen umgekehrt die Satire mehr in Scherz verwandelt, je unsittlicher sie wird. Die alten Eselsfeste in den Kirchen, der Geckenorden und andere Spiele der poetischeren Zeit würden sich jetzt zu lauter Satiren ausspinnen.... Der Scherz fehlt uns bloß aus Mangel an - Ernst, an dessen Stelle der Gleichmacher aller Dinge, der Witz trat, welcher Tugend und Laster auslacht und aufhebt." (Jean Paul)
Schaukelnder Mönch
Paulus in St. Prokul - 9. Jhd
Gebet
Schenke mir eine gute Verdauung, Herr,
und auch etwas zum Verdauen.
Schenke mir Gesundheit des Leibes,
mit dem nötigen Sinn dafür, ihn möglichst gut zu erhalten.
Schenke mir eine heilige Seele, Herr,
die das im Auge behält, was gut ist und rein,
damit sie im Anblick der Sünde nicht erschrecke,
sondern das Mittel finde, die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Schenke mir eine Seele, der die Langeweile fremd ist,
die kein Murren kennt und kein Seufzen und Klagen,
und lass nicht zu, dass ich mir allzuviel Sorgen mache
um dieses sich breit machende Etwas, das sich "Ich" nennt.
Herr, schenke mir Sinn für Humor,
gib mir die Gnade, einen Scherz zu verstehen,
damit ich ein wenig Glück kenne im Leben
und anderen davon mitteile.
(Thomas Morus)
Gedicht
Zum Schluss, zuhinterst am grauen Ende
erlöse auch die Theologen,
dass sie nicht alle Kerzen aufessen
und im Dunkeln sitzen,
dass sie im Rosengarten
keine Jagden veranstalten,
das Evangelium
nicht in Pflästerchen zerschneiden,
die Schilfrohre nicht verheeren,
um Angelruten draus zu machen,
dass sie einander
nicht in den Haaren liegen
und nicht auf dem Flusspferd
Latein daherreiten
und sich nicht darüber wundern,
dass in den Himmel führt
das hilflose Gestammel des Glaubens.
(Jan Twardowski)
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