22. Sonntag nach Trinitatis
Vergebung
Zu den Herbstthemen der Kirche gehört auch die Auseinandersetzung mit der Gebrochenheit des Lebens. Niemand kommt ohne Vergebung aus. "Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." Röm 7,19
Psalm 130 - der sechste Bußpsalm
Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir.
Herr, höre meine Stimme!
Lass deine Ohren merken auf die Stimme meines Flehens.
Wenn du, Herr, Sünden anrechnen willst -
Herr, wer wird bestehen?
Denn bei dir ist die Vergebung,
dass man dich fürchte.
Ich harre des Herrn, meine Seele harret,
und ich hoffe auf sein Wort.
Meine Seele wartet auf den Herrn
mehr als die Wächter auf den Morgen.
Denn bei Gott ist Gnade
und viel Erlösung bei ihm.
Wochenspruch
(Ps 130,4)
Bei dir ist die Vergebung, dass man dich fürchte.
Interpretation
Ein ziemlich unlogischer Satz. Eher sollte es heißen:
"Bei Gott ist Vergebung, dass man ihn sich freue, dass man ihm dankbar sei und ihn liebe."
Die Religionen sprechen vom lebendigen Gott aber gern in paradoxen Sätzen, ganz einfach, weil das Leben paradox ist. Kaum einer hat das so verinnerlicht wie Martin Luther, der einen Sinn für das trotzige "dennoch" des Lebens hatte. Luther sagt: Wir sollen Gott fürchten und lieben, weil wir zugleich Gerechtfertigte und Sünder sind. (simul iustus et peccator)
Solche widersprüchlichen Sätze sind wahr, weil sie uns leben helfen. Sie dienen dazu, eine ganz bestimmte Spannung aufrecht zu halten, eine innere Haltung auszubalancieren, die uns "lebendig" bleiben lässt. Weil wir als Menschen Fehler machen, brauchen wir Vergebung. Sie soll angesichts unserer Gebrochenheit wieder Leben ermöglichen, Blockaden lösen und die Abwärtsspirale von Vergeltung und Rache zum Stillstand bringen.
Und nur wenn wir der Möglichkeit von Vergebung trauen, werden wir überhaupt den Mut finden, unsere Fehler einzugestehen, statt sie unter den Teppich zu kehren, wo sie im Verborgenen fortwirken. Andererseits soll man aus der Zuversicht auf Vergebung nicht folgern, dass nun alles völlig gleich-gültig wäre, was wir tun. "Wenn Gott eh alles verzeiht, ist es doch egal, wie wir uns verhalten." Das scheint zwar logisch, ist aber verkehrt, weil es nicht dem Leben dient.
Wir brauchen die zwei Gesichter Gottes, die liebende und die bedrohliche Seite, um unsere Seele auszurichten auf den Punkt zwischen Verzagtheit und Selbstgefälligkeit, an dem sie frei schweben und sich bewegen kann.
![Klippenabgrund in Irland](img/abgrund.jpg)
Klippenabgrund in Irland
Wenn man bei einem Unfall oder nach einer schweren Krankheit noch einmal davongekommen ist, versteht man die paradoxe Weisheit des Lebens besser. Die erschütternde Erfahrung des Abgrunds, an dem wir uns jederzeit bewegen, erzeugt eine Haltung von Ernst und Ehrfurcht. Diese Furcht ist nicht die Angst der Unwissenheit, sondern der Respekt eines zu Bewusstsein gekommenen Lebens. Sie erst ist der tragende Grund tiefer Dankbarkeit und wirklicher Freude.
Gedanke
Das Heilige ist ein Mysterium tremendum et fascinosum,
ein Geheimnis, das uns erschreckt und zugleich anzieht. Rudolf Otto
Geschichte
Rabbi Bunam sprach zu seinen Schülern:
Jeder von euch soll sich zwei Taschen machen an seinen Rock.
In die rechte Tasche sollt ihr einen Zettel stecken mit den Worten:
"Ich bin nur Erde und Asche."
Und in die linke Tasche steckt einen Zettel auf dem steht:
"Um meinetwillen hat Gott Himmel und Erde erschaffen."
Beides ist wahr. Und je nachdem in welcher Lage ihr euch befindet,
sollt ihr in die rechte oder die linke Tasche greifen...
Gebet
Gott,
du lässt deine Sonne aufgehen über Böse und Gute.
Wir bitten dich: Sende aus deinen Geist
und lehre uns die Welt zu lieben, wie sie ist,
nicht nur, wie wir sie uns erträumen.
Lehre uns, die Menschen zu lieben,
auch mit ihren Fehlern.
Und lehre uns, auch unser Leid in Liebe zu verwandeln
auf dem Weg Jesu, deines Sohn, unseres Bruders,
der mit dir in der Einheit des Heiligen Geistes
lebt und Leben schenkt in Ewigkeit.
Christian Trappe
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