Kreuzweg
Die historische Entwicklung der Kreuzwegs
Via Dolorosa in Jerusalem
Die Tradition der Kreuzwege stammt aus Jerusalem und ist sehr alt. Sie ist keine Erfindung professioneller Theologen, sondern im besten Sinne ein religiöser Volksbrauch. Es lag in Jerusalem nahe, die Leidensgeschichte Jesu zu erinnern, indem man den Weg vom Ölberg nach Golgatha einfach nachvollzog.
Die Zahl von 7 Stationen ist älter als die heute verbreitetere Reihe der 14 Stationen, deren Vorbild die erst im Mittelalter festgelegte Wegführung der Via Dolorosa in Jerusalem ist.
Die ursprüngliche Form der "Stationen" sind nicht Bilder, sondern Erzählsequenzen: Man schritt einen Weg ab und erinnerte an bestimmten Haltepunkten an die verschiedenen Abschnitte der Leidensgeschichte.
In der Kreuzfahrerzeit brachte der Strom westlicher Pilger die Tradition des Kreuzwegs ins Abendland hinüber, wo sich diese Meditationsform in verschiedenen Wellen und mit vielerlei Ausprägungen fast überall ausbreitete.
Erst als sich die Kreuzwegandacht von der Jerusalemer Ortstradition löste, entwickelte sich die künstlerisch bildhafte Darstellung der einzelnen Szenen. Die Bilder boten Möglichkeiten der persönlichen Meditation, wurden aber auch gemeinsamen begangen. Allmählich gerann aus dem lebendigen Strom der Überlieferung die klassische Form des 14-Stationenweges.
Die 15 Stationen des klassischen Kreuzwegs
- Station - Jesus wird zum Tod verurteilt
- Station - Jesus nimmt das Kreuz auf seine Schultern
- Station - Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz
- Station - Jesus begegnet seiner Mutter
- Station - Simon von Cyrene wird gezwungen, Jesus zu helfen
- Station - Veronika reicht Jesus ihr Schweißtuch
- Station - Jesus fällt zum zweiten Mal unter dem Kreuz
- Station - Jesus spricht zu den klagenden Frauen
- Station - Jesus fällt zum dritten Mal unter dem Kreuz
- Station - Jesus wird seines Gewandes beraubt
- Station - Jesus wird ans Kreuz genagelt
- Station - Jesus stirbt am Kreuz
- Station - Jesus wird vom Kreuz abgenommen
- Station - Jesus wird ins Grab gelegt
Während der Barockzeit, die insgesamt zu dramatischen Inszenierungen neigte, wurden in katholischen Gegenden Kreuzwege unter freiem Himmel angelegt. Die Landschaft wurde christlich überformt, so dass die Gläubigen beim Aufstieg auf einen Hügel den Gang Jesu nach Golgatha nachempfinden konnten.
Im Gegenzug zu dieser sehr demonstrativen Bildhaftigkeit nahm die protestantische Frömmigkeit Abstand vom Kreuzweg und entwickelte andere textzentrierte Formen der Passionsandacht. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde der Kreuzweg als gemeinsames christliches Erbe wiederentdeckt, vor allem durch den Ökumenischen Kreuzweg der Jugend.
Kreuzweg - Spannungsfeld zwischen der Verurteilung Jesu und der Stille am Kreuz.
Der Kreuzweg als Meditationsform
Wie alle Formen gegenständlicher Meditation ermöglicht es die Struktur des Kreuzwegs, längere Zeit in einer Betrachtung zu verharren. Um dem Abgleiten der Achtsamkeit entgegenzuwirken, wird die Betrachtung des Kreuzes auf dem Weg in vielen Variationen entfaltet. Die einzelnen Stationen geben immer neue Impulse, die aber nicht in eine Zerstreuung führen, sondern mit dem Kreuz als der zentralen Darstellung der Leidens verbunden bleiben. Nicht die dramatische Steigerung der Darstellung, sondern die vertiefende Betrachtung macht das Wesen der Meditation aus.
Die meditative Begegnung mit der existentiellen Dimension des Leidens ist nicht unproblematisch. Sie kann die Lebensenergie lähmen und zu depressiver Erstarrung führen. Darum ist das andere Element des Kreuz-Wegs wichtig: Der Weg. Neben der Statio gibt es die Ambulatio, und nur im Wechsel von Stillständen und Wegstrecken vermag dieses Ritual, seine heilsame Wirkung zu entfalten.
Der Kreuzweg setzt sich mit dem Leid auseinander, ohne es gezielt bearbeiten zu wollen und sich von ihm bannen zu lassen. Es ist der Gang der Ereignisse, der Fluss des Lebens selbst, der den Betrachter weitertreibt. Wie eine Welle rührt diese Meditation etwas auf und lässt es wieder los. Und wie bei einer Welle liegt die Kraft der Meditation in der Wiederholung.
"Gebet der sieben Kniefälle" wurde der Kreuzweg auch genannt. Der alte Name erinnert daran, dass neben dem Gehen auch eine senkrechte Bewegung zu dieser Meditation gehört. In unserer westlichen, auf Aktivität fixierten Welt ist auch die Frömmigkeit stark auf das Tun ausgerichtet. Das Kreuz auf sich zu nehmen und geduldig zu tragen, erscheint als das Entscheidende. Die Kreuzwegbilder kennen aber auch die andere Seite: das Fallen, das Sich-helfen-lassen, das Am-Kreuz-hängen, das Abgenommen-und-gebettet-werden. Erst dort stößt man zum umfassenderen Begriff des Leidens vor, zum Nicht-Tun. Und erst dort, wo wir nichts mehr tun, wird auch die aufrichtende Kraft Gottes erfahren.
Projekt "Kreuzwege" - Geh-Meditationen
in der Alten Brüderkirche, Kassel
Als körperlicher Andachtsform kommt dem Kreuzweg noch einmal besondere Bedeutung zu, denn die christliche Tradition ist nicht gerade reich an Ritualen, die Bewegungen und Körpererfahrungen miteinbeziehen. Nicht dass es derlei Formen nicht gegeben hätte, aber vieles ist hier verlorengegangen, da sich das westliche Abendland im Gegensatz zu den östlichen Religionen mehr auf die Überlieferung von Texten konzentriert hat.
Für eine zeitgemäße Weiterentwicklung des Kreuzwegs lassen sich Erfahrungen anderer Religionen oder auch aus Körperarbeitprogrammen fruchtbar machen. Zur Gestaltung der Ambulatio kann man Impulse der Gehmeditation aufnehmen, wie sie derzeit besonders in der buddistischen Schule Thich Nhât Hanh´s gepflegt werden.
Anstelle der Kniefälle, die traditionell nach der Ansage der Station erfolgt, kann auch eine Körperübung am Ende der jeweilige Betrachtung vor dem Weitergehen erfolgen: Im Stehen fällt der Oberkörper vorüber und hängt eine Weile herab, bevor er, unterstützt vom Atem, Stück für Stück aufgerichtet wird. Mit dieser loslassenden Bewegung geht freilich eine Akzentverschiebung einher: Von der Verehrung Jesu zur Identifikation. Natürlich können auch beide Bewegungen nebeneinander bestehen.