Inzens - die Weihrauchstraße in den Himmel
9. Gerüche des Unheils
Sauberkeitsideologie
und "unreine Welt"
Der Protestantismus, von Anbeginn an mit dem Bürgertum liiert, hat sich dessen hygienischer Sauberkeitsideologie und der damit verbundenen Verdrängung des Körperlichen verschrieben. Sterile Renigungsmittel, Waschlotionen und Parfums dürfen aber nicht die einzigen Düfte sein, die wir im Umfeld des Gottesdienstes zulassen, Weihrauch ebensowenig.
Das Christentum kann sich zwar des reinigenden Wohlgeruchs als einer religiösen Ausdrucksform bedienen, doch es darf nicht darin aufgehen. Denn wie Bilder in der Religion einerseits unvermeidlich, anderseits aber nur im wechselvollen Spiel eines Bilderstreits erträglich sind, so kann es im Bereich des Heiligen auch nur gebrochene Duftbilder geben.
Dissonanzen, wie sie uns z.B. die moderne Kirchenmusik zumutet, müssen auch im olfaktorischen Bereich ihren Raum haben. Denn wenn nur noch Wohlgerüche uns umgeben, ist das Neurotische nicht fern.
Auferweckung des Lazarus
"Er stinkt schon" (Joh. 11,39)
Jesus war kein Essener, der sich von der unreinen Welt abschottete. Und seine Kirche kann kein Verein von Saubermännern und von Frauen mit Waschzwängen sein. Wo bleibt der Schweißgeruch des kreuztragenden Christus im Kontext unserer Liturgie? Wo der Pesthauch der Krankheit, der Verwesungsgeruch des Lazarus und der Gestank der Hölle?
Einst mußte man solche Fragen nicht stellen, denn all diese Gerüche waren da - und Weihrauch trat als wirksames Mittel dagegen an bzw. konnte sie heilvoll in sich aufnehmen. Wenn wir uns anschicken, die odoratische Situation in unseren Kirchen gezielt zu gestalten - und das tun wir im Grunde schon längst, indem wir mit Reinigungsmitteln an der allgemeinen Eliminierung der unangenehmen Geruchsfaktoren teilnehmen -, dann sind wir auch hinsichtlich des Gestanks gestalterisch herausgefordert.
Wie es artifiziell geschehen kann, die verdrängten, aber mit dem menschlichen Leben zutiefst verbundenen Gerüche von Anstrengung, Krankheit, Tod und Vergehen zu repräsentieren, kann und will ich hier nicht festschreiben.
Ansätze dazu bieten einige künstlerische Versuche in Kirchenräumen. Ein Beispiel aus der Tradition, das sicher so nicht nachahmbar ist, läßt vielleicht positiv ahnen, was wir verloren haben:
Bei orthodoxen Bestattungsfeiern verabschieden sich die Hinterbliebenen mit dem heiligen Kuß von der oder dem Entschlafenen. Sie erfahren dabei die Kälte und den Geruch des Todes und haben auf diese drastische Art Gelegenheit, die schmerzhafte Wirklichkeit des Abschieds im Schutzraum des Heiligen zu realisieren.
In unserer gegenwärtigen Praxis hingegen werden die nächsten Angehörigen nicht selten vom Arzt medikamentös "ruhiggestellt", so dass ihr Wahrnehmen reduziert wird und sie die Hilfe des Rituals bei der Trauerarbeit kaum erfahren können.
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