Inzens - die Weihrauchstraße in den Himmel
12. Rauschhafte Religion - ein Spiel auf Teufel komm raus?
Beide Großkirchen in unserem Land haben sich derzeit der Nüchternheit, der pragmatischen Weltgestaltung und der Aufarbeitung von Geschichte verschrieben. Es paßt in dieses Bild, daß nach der Liturgiereform des II.Vatikanums die Verwendung von Weihrauch auch in der katholischen Kirche zurückgegangen ist.
Die postkonziliare Liturgie wurde in den Dienst der Bewußtmachung, der Erinnerung der großen Heilstatsachen und der Information gestellt. Der Gottesdienst soll transparent und verständlich sein. Das Geheimnisvolle wird zurückgedrängt. Und das Rauschhafte, der Opiumaspekt der Religion, kann in diesem Zusammenhang nur suspekt erscheinen. In unseren durchrationalisierten Gottesdiensten sind Prozesse des Loslassens, des Vergessens, des Sich-Überschreitens nicht vorgesehen. Der einzelne bleibt in den Grenzen seines Bewußtseins und damit meist auch seines kleinen Ichs gefangen.
Der Verzicht auf manipulative Bewußtseinsüberschreitungen im Kult mag gute Gründe haben; aber damit bleibt der Ritus den Gläubigen eine (vielleicht entscheidende) Leistung schuldig.
Aus der Neurophysiologie kann man erfahren, dass unser Bewußtsein kein statisches Gebilde ist, das auf fixierten und unwandelbaren Spuren der Erinnerung basiert. Vielmehr sind auch Vergessen und Loslassen notwendige Teile des Bewußtseinsprozesses.
"Ein Lebewesen muß auf irgendeine Weise die Fähigkeit erwerben, all seine 'Schemata' umzustürzen und sie völlig neu zu konstruieren. Das ist der entscheidende Schritt in der Entwicklung des Lebens." (Walter Freeman)
Auch für das Zusammenleben sind Vorgänge des selbstüberschreitenden Vergessens unverzichtbar. Unsere sich solipsistisch entwickelnden Gehirnstrukturen machen periodisch einen kollektiven Abgleich von gespeicherten Erfahrungen, Vorstellungen, Werturteilen etc. erforderlich, wenn ein Sozialgefüge Bestand haben soll.
Im Zuge solchen Abgleichs kommt es notwendigerweise auch zur Löschung von individuellen Prägungen, was im Grunde einer Art "Gehirnwäsche" entspricht.
Man muß jedoch realisieren, daß es sich dabei um einen ganz allgemeinen biologischen Vorgang handelt, der in vielen Formen sozialer Organisation des Lebens eine entscheidende Rolle spielt.
Es geht beim individuellen wie beim kollektiven Vergessen um einen durch elektrochemische Reaktionen im Gehirn provozierten Prozeß einer plötzlichen Auflösung von intentionalen Einstellungen und Verhaltensmustern, die einen Zustand der Beeinflußbarkeit hinterläßt und damit Möglichkeiten eröffnet, daß neue Grundeinstellungen und damit auch neue Verhaltensmuster gebildet werden können.
Nietzsche (1844 - 1900), der
immer wieder versuchte,
gegenüber der Alleinherrschaft
der reinen Logik auch die
Instinkte ins Recht zu setzen,
sprach sich für den Geruchssinn aus
Bereits Friedrich Nietzsche hatte - im Widerspruch gegen die Übermacht des Erinnerns in der Epoche des Historismus - eine Kultur des Vergessens gefordert.
Ihm ging es dabei um die Freisetzung neuer, vitaler, schöpferischer Lebensmöglichkeiten. Aber schon Nietzsche spürte und erkannte es im Zuge seiner weiteren Entwicklung noch deutlicher, dass solches Vergessen ein gefährlicher Vorgang ist, der eigentlich nur im Bannkreis der eternisierenden Mächte von Kunst und Religion vollzogen werden kann.
Religion wird hier herausfordernd daran erinnert, daß sie keineswegs nur ein musealer Hort für vergangene Lebensentwürfe ist, sondern daß sie das Ewige repräsentiert, in dessen Gegenwart Fixierungen der Vergangenheit überschreitbar werden.
Indem er die Problematik des Vergessens mit der moralischen Frage von Schuld und Sühne verknüpft , deutet Nietzsche schließlich auch an, an welcher Stelle des religiösen Kults eine Kultur des Vergessens ihren Ort haben müßte: im vorbereitenden Sündenbekenntnis.
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