Inzens - die Weihrauchstraße in den Himmel
16. Wann kann man räuchern?
Die Frage, an welchen Stellen (innerhalb eines Gottesdienstes und innerhalb des Kirchenjahres) eine Inzensation sinnvoll sein könnte, sollte im Wesentlichen geklärt sein, bevor man mit der Praxis beginnt. Hier sollte Kontinuität und nicht Willkür herrschen.
Die offiziell-katholische Regelung zur Verwendung von Weihrauch findet sich im Messbuch. Detaillierte Beschreibungen der katholischen Inzensationsriten wirken auf Protestanten wohl eher befremdlich; sie wollen und sollen aber nicht im Sinne zwanghafter Kasuistik verstanden werden, sondern enthalten vielmehr eine Menge praktischer Erfahrungen.
Liturgisch inzensiert wird (stets ingressiv):
- zum Einzug; der Weihrauchträger geht voran! (liturgisches Personal = Darsteller Christi)
- zu Beginn (der Altar = Ort, Thron Christi)
- vor der Evangelienlesung (das Evangeliar = Wort Christi)
- vor der Gabenbereitung, Offertorium (Gaben, danach liturgisches Personal und Gemeinde = Leib Christi)
Ein weiterer Inzens bei der Elevation ist nach evangelischem Sakramensverständnis nicht sinnvoll.
Der Akt der Inzensation steht für sich und wird nicht von Gebeten oder Voten begleitet. Ein gelegentliches biblisches Deutewort oder eine ausführlichere katechetische Hinführung können der Gemeinde den Zugang erleichtern, aber nur, wenn solche Erklärungen Ausnahmen bleiben.
Bei entsprechenden Gelegenheiten könnte eine Schale mit glühender Kohle aufgestellt werden, in die alle Teilnehmenden selbst ein Weihrauchkorn einlegen können. Eine solche Praxis widerspräche zwar der katholischen Auffassung, nach der nur der segnende Priester "einlegen" kann, entspräche aber umso mehr der evangelischen Auffassung vom allgemeinen Priestertum der Gläubigen.
Denkbar wäre auch, ein solches Arrangement am Kirchenportal zu erproben, als (erlebte und aktiv aufgenommene) Reinigung auf der Schwelle zum Gottesdienstraum.
Seltene Form einer Schale zur Aufbewahrung des Weihrauchs: Weihrauchschiffchen
Eine neuere Form: Beim Vortrag des "Gloria in excelsis" (einer Orchestermesse) stehen mehrere Rauchfassträger nebeneinander (am Choreingang) und schwingen das Rauchfass.
Um mit Weihrauch innerhalb der evangelischen Kirche wieder erste Erfahrungen zu machen, sollte man wohl keinen Gottesdienst wählen, in dem der Schwerpunkt auf der Predigt liegt. Überhaupt scheint sich - nach dem bisher Gesagten - die Verwendung von Duftstoffen in ausgeprägten Predigtgottesdiensten geradezu zu verbieten.
Einen Ansatzpunkt bietet aber z.B. die Osternacht, in der Weihrauch einen traditionellen Ort hat. "Seit dem 11.Jahrhundert wird die Osterkerze durch kreuzförmige Einfügung von fünf Weihrauchkörnern geweiht."
Die Verwendung von Weihrauch kann vor allem im Rahmen der Lichtfeier (beim Osterlob) eindrucksvoll sein: Noch bevor eigentlich etwas zu sehen ist, verbreiten sich Geruchsschwaden im Raum. Die regressions-induzierende Potenz der Dunkelheit (Traumqualität), die Menschen in kindliche Aufnahmebereitschaft versetzt, wird durch diese isolierte Ansprache des ebenfalls mit frühkindlichen Aspekten verbundenen Riechsinns noch gesteigert.
Interessant sind auch im weiteren die visuellen Effekte, die sich durch den Rauch im Umfeld der Osterkerze ergeben: Es ist nicht ein kleiner, klarer Lichtpunkt im dunklen Raum, sondern es entsteht um das Licht herum ein "Hof" wie ein geheimnisvoller Nebel am Morgen der neuen Schöpfung.
Wo jährlich ein Kirchweihgottesdienst stattfindet, kann eine Räucherung bisweilen mehr sagen als verlegene Worte zur Kirmes in der Predigt.
Dabei könnte die Gemeinde nicht nur aus der Ferne in drei Zügen mit Weihrauch bedacht, sondern bei der Inzensation umschritten und dabei buchstäblich in eine duftende Wolke eingehüllt werden. Sie kann sich so als ein verbundener Leib erfahren, der auf den transzendenten Christusleib verweist:
"Aufsteige, Herr, unser Gebet, wie Weihrauch vor dein Angesicht; und wie dies Haus mit wohlriechendem Duft sich füllt, so erfülle der Wohlgeruch Christi seine Kirche."
Bei der Erst- bzw. Wiedereinweihung eines Kirchbaues könnte Weihrauch in einer oder mehreren Schalen auf dem Altar verbrannt werden. Wilhelm Schulze beschreibt mit sichtlich pyrotechnischer Begeisterung, jedoch ohne in seiner Ekstase den Rahmen klerikaler Zähmung vollends zu sprengen, das Weihrauchopfer Julius Kardinal Döpfners anlässlich einer Kirchweihe:
"Da glosten nicht etwa ein paar Flämmchen im Opferlichtformat vor sich hin. Die fünf sorgfältig konstruierten und duftmäßig wohlkomponierten Feuer von bis zu 10 cm Höhe entließen deutlich sichtbare und riechbare Wolken, die sich schließlich vereinten und emporstiegen, sich an der Kirchendecke brachen und dann wieder niedersanken." (Wilhelm Schulze)
Zusätzlich könnte dann ein Rundgang (der Assistenten) mit dem Rauchfass erfolgen, bei dem die Grundmauern inzensiert werden (evtl. in einem eigenen Rundgang auch die Gemeinde).
Weihrauch, Myrrhe, Gold - Die drei Weisen
Das Weihnachtsfest bietet durch das Geschenk der drei Weisen motivisch einen Ansatzpunkt zur Verwendung von Weihrauch. Ohnehin spielen Gerüche in dem gefühlsgeladenen Umfeld dieses weithin regressiv gestalteten Festes eine große Rolle:
Duftende Gewürze beherrschen die Weihnachtsbäckerei ebenso wie den "Christkindl"-Glühwein. Andererseits könnten gerade solche Geruchsfixierungen die Akzeptanz von Weihrauch in einem evangelischen Gottesdienst erschweren.
Ein problemloser Übergang zu dem neuen alten Ritus der Räucherung dürfte dort gut möglich sein, wo am 6. Januar in ökumenischer oder auch in evangelischer Verantwortung Sternsinger ausgesendet werden. Wenn der Segenswusch der Sternsinger mit einer Inzensation einhergeht, lebt darin auch der alte Brauch der Rauchnächte weiter fort.
Eigentümlicherweise kenne ich (noch) keine Frauenliturgie, in der Weihrauch verwendet wird. Wenn wie beim WGT 1992 die klassischen "Vier Elemente" symbolisch sichtbar gemacht und zum Altar gebracht werden, dann heißt es:
Eine Handvoll Erde, eine Schale mit Wasser, eine brennende Kerze - und dann als Symbol für Luft: eine Feder, ein Windrad oder ein Luftballon. Es wäre zu überlegen, ob in einem solchen Kontext die von der Tradition her naheliegendere Möglichkeit des Weihrauchs nicht auch die ausdrucksstärkere wäre.
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