Kirchenpädagogische Erschließung für Schulklassen
Den Flügelschlag des Engels spüren
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Kirchenpädagogik lässt sich nicht unabhängig von den konkreten Bedingungen des Raumes konzipieren. In einer gotischen Hallenkirche mit reichem Bildprogramm kann man z.B. große Erzählzusammenhänge miteinander abschreiten.
Wenn der Führende die Objekte sinnvoll ausgewählt hat, einen inneren Zugang zu ihnen hat und sie in einem narrativen Zusammenhang einzubetten versteht, dann kann ein solcher klassischer Rundgang spannender sein als ein Film.
Denn durch das Umhergehen verändern sich nicht nur ständig die Blickpunkte, sondern vor allem der Körper erfährt immer wieder kleine Impulse, die die Aufmerksamkeit vertiefen können.
Ein peripatetischer Effekt, der kirchenpädagogisch schon immer genutzt wurde (biblia pauperum) und auch bei der Meditation hilfreich sein kann (Kreuzweg).
In der Klosterkirche Lippoldsberg gibt es weder biblische Fresken noch kuriose Figurationen, nichts, was die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Dafür findet man aber einen romanischen Raum, der ein Geheimnis birgt, das ganz offen liegt und doch nicht mit Händen zu greifen ist.
Kindern teilt sich diese besondere Raumwirkung unmittelbar mit, ohne dass Erklärungen dazu nötig wären.
Klosterkirche Lippoldsberg
Nach mehreren Versuchen, mit 8-9jährigen Schülern klassische Erkundungsgänge zu unternehmen (nach dem Schema: "Das ist der Altar. Was ist ein Altar?"), wurde uns schmerzhaft bewusst, dass der Raum damit nur geschwächt wird.
Durch viele erklärende Worte wird Kindern das "Geheimnis" des Sakralraums eher verstellt. Meist quittieren sie das mit rasch abfallender Konzentration und kontraproduktivem Verhalten (gewölbeverstärktes Lärmen, Erstürmen der Kanzel etc.).
Sie sind schnell fertig mit dem Kirchenraum und wollen - durchaus auf der Suche nach "Geheimnissen" - in andere, verborgenere Zonen vordringen (z.B. Turm, Glocken, Orgel, Dachstuhl).
In Lippoldsberg bieten wir interessierten Schulklassen daher Möglichkeiten erfahrungsorientierten Lernens. Solches Lernen mit allen Sinnen braucht jedoch seine Zeit. Der schulische 45-Minuten-Takt ist dafür zu kurz. Man sollte einen Vormittag oder noch besser mehrere Tage innerhalb einer Projektwoche haben.
Bauprinzipien erfahren
Alte Kirchen wurden nach schlichten Grundprinzipien gebaut, die für Kinder leicht nachvollziehbar sind.
Das Kloster Lippoldsberg liegt an der Weser, die früher ein bedeutender natürlicher Verkehrsweg war und an einer Furt, durch die eine West-Ost-Straße den Fluss kreuzte. Wir gehen mit den Schülern zur Weser und suchen die Stelle: Wo früher die Furt war, verkehrt heute eine kleine Fähre.
Anstieg zur
Klosterkirche Lippoldsberg
Auf dem Rückweg werden die Schüler durch eine steilere Gasse geführt, damit sie den "Berg" spüren, auf dem das Kloster errichtet wurde. So wurde es vor Hochwasser gesichert.
Oben angekommen stehen wir vor der alten Klostermühle, wo noch heute über eine kleine Wasser-Turbine Strom gewonnen wird. Die Nonnen ließen schon sehr früh einen Mühlgraben anlegen, um fließendes Wasser an ihre Wohn- und Arbeitsgebäude heranzuführen. Es diente zum Bewässern der Gärten, zum Putzen, zum Abtransport von Abfällen - und durch den Antrieb von Mühlen als arbeitserleichternde Energiequelle.
An der Kirche angelangt, machen wir uns mittels der dortigen Sonnenuhr die Ausrichtung des Gebäudes bewusst: Die Kinder erfassen intuitiv, dass der Gebäudeeindruck im Osten viel gefälliger ist als im Westen. Das entspricht der symbolischen Weltordnung des Mittelalters. Während man die Kirchen bewusst nach Osten ausrichtete, der aufgehenden Sonne und dem Licht der Auferstehung entgegen, schirmte man sie nach Westen ab. Denn dort stellte man sich das Totenreich vor: das Chaos, die Welt der Dämonen. Diese polare Symbolik ist Kindern unmittelbar eingängig.
Literatur: Sachkundige Einführung in weitere sakralen Bauprinzipien bietet das Buch: Schnittpunkt zwischen Himmel und Erde. Kirche als Erfahrungsraum des Glaubens. Hg.v. Eckhard Bieger u.a.. Kevelaer (Butzon&Bercker) 1998
Den Raum im rituellen Vollzug erleben
Schwellen und Übergänge zu achten, ist eine der Grundregeln ritueller Vollzüge. In Lippoldsberg sind die Türen klein, und man betritt sie zu ebener Erde. Damit die Schüler nicht einfach in diese Kirche "reinlatschen" und dann das Geheimnis hinter der Tür, die Anderwelt, den heiligen Raum womöglich aus Unachtsamkeit verpassen, versuchen wir auf andere Weise, den Zugang künstlich herauszuzögern:
Wir sammeln uns vor der Westtür, nehmen den Eingang wahr, gehen aber noch nicht hinein. An der Tür wird ein Plan angeschlagen, auf dem ein Wohnhaus in Seitenansicht und als Grundriss skizziert ist.
Daneben ist die Kirche von der Seite aufgemalt. Die Kinder sollen nun den Grundriss der Kirche ergänzen. Damit sie sich einen Überblick verschaffen können, werden sie zunächst auf einen Rundgang um die Kirche geschickt.
Die Aufgabe ist durchaus eine Herausforderung, aber auch zu bewältigen. Ein Ziel der Übung, die dreidimensionales Vorstellungsvermögen verlangt, ist, dass den Kindern die kreuzförmige Struktur und damit ein weiteres Bauprinzipien bewusst wird.
Die Umkreisung ist aber auch bereits eine Form der Meditation, die in Zeiten zurückverweist, in denen der Glaube vor allem getanzt wurde. Durch das Umkreisen lädt sich das Gebäude für die Kinder mit Spannung und Bedeutung auf.
Die Kirche wird fremd und geheimnisvoll, gehört auf einmal zu den Dingen, an die man sich anpirscht, die man erst einmal von allen Seiten außen betrachtet, bevor man sich hineinwagt. Das alles wird aber bewusst nicht zur Sprache gebracht, um nicht gekünstelte, sogenannte "meditative" Gefühle wachzurufen.
Kleiner "Mönch"
Eine zweite verfremdende Vorbereitung geschieht durch Verkleidung. Unter dem Hinweis, dass die Kirche vor langer Zeit erbaut wurde von Menschen, die ganz anders lebten als wir, bieten wir den Kindern Gelegenheit, in ein anderes Gewand zu schlüpfen.
Unser Fundus an schlicht improvisierten Kutten lässt verschiedene Wahlmöglichkeiten zu: Mönche bzw. Nonnen oder Bauern bzw. Bäuerinnen. Das Verkleiden bietet Gelegenheit, einiges über das Klosterleben zu erzählen oder zu erfragen, und lässt die Kindern Abstand zu ihrer normalen Identität nehmen. So können sie sich tiefer auf etwas Fremdes einlassen.
Was nun folgt, ist eine langsame, stille Gehmeditation, die inspiriert ist von Bewegungssequenzen aus der buddhistischen Tradition. Dabei wird jeder Fuß achtsam aufgesetzt und abgerollt, wobei die Gewichtsverlagerung spürbar wird. Auch wenn die Kinder dies nicht so genau einhalten, wird doch der automatisierte Gehprozess durch die unnatürliche Verlangsamung so gestört, dass der simple Vorgang des Gehens zu einer Übung der Achtsamkeit wird.
Daneben bekommen die Kinder eine Vigilkerze in die Hand und müssen beim Gehen auf die Flamme achten. Schließlich wird Ihnen noch ein dritter, einfacher Reiz geboten: ein sehr leise per CD eingespielter "Urton" (ein von der Frequenz gleichbleibender, aber in seiner Klangfarbe changierender Grundton), der erst nach einiger Zeit der Gewöhnung hörbar wird und dessen Wahrnehmung sich infolge des Gehens durch den Raum ändert.
Durch diese drei "Geländer" wird die Aufmerksamkeit genügend gebunden, um die Geh-Mediation mit einer kooperativen Gruppe auf etwa 10 Minuten ausdehnen zu können.
Die Seitenschiffe
verlocken zum Gehen
Die Kinder gehen in zwei lose strukturierten Gruppen: Zunächst die "Mönche bzw. Nonnen" und in einem Abstand von 15-20 Metern die "Bauern bzw. Bäuerinnen".
Durch das versetzte Gehen wird es möglich, durch die Säulen hindurch gelegentlich eine Außenansicht der jeweils anderen Prozessiongruppe zu erhaschen und darin auch sich selbst gespiegelt zu sehen: das ist einfach ein schönes Bild.
Die Prozession, die keinerlei religiösen Inhalt hat, macht den Raum erfahrbar, ohne dass er direkt betrachtet und erklärt wird. So bleibt er frei und sein "Geheimnis" kann spürbar werden.
Mit dem Raum umgehen
Nach der initiatorischen Schreitmeditation, die in Stille geschieht, bieten sich in der Klosterkirche Lippoldberg vor allem Sing-Übungen an. Die Gewölbe helfen durch den langen Nachhall auch Ungeübten, den Klang der eigenen Stimme positiv zu erfahren.
Diese Akustik will ausprobiert werden und fordert die Schüler geradezu heraus. Nur wenn dieses Bedürfnis nach der Stimmerfahrung recht bald aufgriffen und bewusst gestaltet wird, kann man nervendes Chaos vermeiden. Denn das Erzeugen von Tönen erfordert in der Kirche immer wieder auch das bewusste Verstummen und Zuhören wie der Ton sich im Raum entfaltet.
Gerade durch bewusstes Tönen oder Singen kann ein gewisser Respekt dem Raum gegenüber entstehen, der die Voraussetzung weiteren Arbeitens ist.
Es gibt dann viele andere Möglichkeiten, kleine Erfahrungen mit dem Raum zu induzieren:
- Tanzen - Wir beziehen uns dabei auf die geometrischen Vorgaben des Raumes
- Individuelle Suche - Jede(r) sucht sich seinen "eigenen Platz" in der Kirche suchen und bleibt dort eine Weile, um den "Engel dieses Ortes" (genius loci) zu spüren. Diese Aufgabe wird alleine und schweigend durchgeführt, da die Isolation das eigene Erleben intensiviert. In einem gemeinsamen Durchgang kann dann jede(r) den anderen den Platz zeigen und beschreiben (Jedes Kind kann an seinem jeweiligen Ort auf einem Foto festgehalten werden.).
- Erkundungsgang mit Detail-Fotos - Auf einer Fotokopie sind Fotos zusammengestellt, die aufgrund des ungewöhnlichen Ausschnitts einen gewissen Verfremdungseffekt besitzen und intensives Sehen und Suchen herausfordern. Die Kinder können anhand solcher Fotos z.B. die Spuren des gottesdienstlichen Lebens im Raum entdecken (Liedtafel, Kerzenständer ...).
- Malen - Die Kinder zeichnen einzelne Ornamente oder Baudetails ab und eignen sich damit den Raum an.
- Den Menschen begegnen, die in der Kirche arbeiten
- dem Küster, der für den Körper des Hauses zuständig ist
- dem Pfarrer, der für den Geist des Hauses zuständig ist
- dem Kantor, der für die Seele des Hauses zuständig ist
- Die Orgel vom Kantor oder den Turm vom Küster erschließen zu lassen, bedeutet einen höheren organisatorischen Aufwand, der aber meist durch das tiefere Erlebnis belohnt wird. So kann jeder von seiner Arbeit authentischer und deshalb anschaulicher berichten.
Im Raum arbeiten
Ist ein natürlicher Respekt und ein gewisses Verständnis für den Raum gewachsen, dann wird es auch möglich, die Klosterkirche schlicht als Lern- und Lebensraum zu nutzen, natürlich für Themen, die sich vom Ort her nahe legen. Zwei Beispiele sollen dies abschließend skizzieren.
Wie lebt man im Kloster?
Refektorium - Hogwarts
Spätestens seit Harry Potter dürfte deutlich sein, dass ein Kloster auch für Kinder eine spannende Sache sein kann. Denn Joanne K. Rowling bedient sich bei ihrer Schilderung von Hogwarts der Organisationsformen englischer Internatsschulen, die ihrerseits auf alten klösterlichen Regeln basieren.
Ein Kloster ist zunächst eine soziale Lebensordnung, die aufgrund ihrer Klarheit Kindern leicht zu vermitteln ist und sich in den verschiedenen Klostergebäuden anschaulich abbilden lässt.
Die einstigen Klostergebäude sind zwar in Lippoldsberg nicht mehr erhalten, aber der sogenannte Klosterhof vermittelt noch immer einen Eindruck der früheren Anlage. Auch können die verschiedenen Funktionsgebäude (Refektorium, Dormitorium etc.) in einem Modell spielerisch arrangiert werden.
Und man kann die Kirche in mehrere Bezirke aufteilen, die dann die verschiedenen Räume eines Klosters abbilden; so kann man dort einen Klostertag nach der Benediktsregel nachspielen (24-Stunden in 24 oder 48 Minuten). Die Kinder können sich dazu wieder mit Kutten einkleiden.
Die Georgslegende
Die Lippoldsberger Klosterkirche ist St. Georg und Maria geweiht und eine Beschäftigung mit diesen beiden Patronen kann in den Geist des Gebäudes einführen. Das ist freilich ein längerer Weg, den wir bislang nur einmal im Rahmen einer fünftägigen Projektwoche realisiert haben. Die ersten Tage waren der Rückführung in die Zeit der Ritter gewidmet. Die Nordostapsis der Klosterkirche diente dabei als Saal der Ritterrunde, in dem Verabredungen getroffen und verbindliche Regelungen aufgestellt wurden. Fragen wurden geklärt: Wie lebten die Menschen im Mittelalter? Wie wurde man Ritter? Es wurden Rüstungen gebaut und ein Turnier im Kirchgarten veranstaltet.
Klosterkirche Lippoldsberg - Ritterspiele
Mit dem Turnier knüpften wir bewusst an die vitalen Interessen der Kinder an, wobei zu lernen war, dass das Kämpfen der Ritter - zumindest intentional - an strenge Regeln gebunden und in den Dienst der Menschen gestellt war.
Die zweite Wochenhälfte diente dann der Erarbeitung eines Georgspiels, das am Freitag in der Turnhalle der Schule vor vielen Zuschauern präsentiert wurde.
Die Beschäftigung mit dem jeweiligen Patron einer Kirche dürfte vielerorts gute Möglichkeiten bieten, sich gedanklich einem Kirchenraum anzunähern.