Die Heiligen
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- Literatur: Heilige
Gedicht
Die Heiligen (Hilde Domin)
Die Heiligen in den Kapellen
wollen begraben werden, ganz nackt,
in Särgen aus Kistenholz
und wo niemand sie findet:
in einem Weizenfeld
oder bei einem Apfelbaum,
dem sie blühen helfen
als ein Krumen Erde.
Die reichen Gewänder, das Gold und die Perlen,
alle Geschenke der fordernden Geber,
lassen sie in den Sakristeien,
das Los, das verlieren wird, unter ihrem Sockel.
Sie wollen ihre Schädel und Finger einsammeln
und aus den Glaskästen nehmen
und sie von den Papierrosen ohne Herbst
und den gefassten Steinen
zu den welken Blumenblättern bringen
und zu den Kieseln am Fluss.
Sie verstehen zu leiden,
das haben sie bewiesen.
Sie haben für einen Augenblick
ihr eigenes Schwergewicht überwunden.
Das Leid trieb sie hoch,
als ihr Herz den Körper verzehrte.
Sie stiegen wie Ballons, federleicht,
und lagen in der Schwebe auf ihrem wehen Atem
als sei er eine Pritsche.
Deshalb lächeln sie jetzt,
wenn sie an Feiertagen
auf schweren geschmückten Podesten
auf den Schultern von achtzig Gläubigen
(denen man das Brot zur Stärkung voranträgt)
in Baumhöhe durch die Straßen ziehn.
Doch sie sind müde,
auf den Podesten zu stehn
und uns anzuhören.
Sie sind wund vom Willen zu helfen,
wund, Rammbock vor dem Beter zu sein,
der erschrickt,
wenn das Gebet ihm gewährt wird,
weil Annehmen
so viel schwerer ist als Bitten
und weil jeder die Gabe nur sieht,
die auf dem erwarteten Teller gereicht wird.
Sie sind müde, aber sie bleiben,
der Kinder wegen.
Sie behalten den goldenen Reif auf dem Kopf,
den goldenen Reif,
der wichtiger ist als die Milch.
Denn wir essen Brot,
aber wir leben vom Glanz.
Wenn die Lichter angehn
vor dem Gold,
zerlaufen die Herzen der Kinder
und beginnen zu leuchten
vor den Altären.
Und darum gehen sie nicht:
Damit es eine Tür gibt,
eine schwere Tür
für Kinderhände,
hinter der das Wunder
angefasst werden kann.
Nichts beschreibt treffender (und schöner), wie es um die Heiligen bestellt ist, als dieses Gedicht von Hilde Domin. Denn der Text verbindet beides: Kritik, radikale Kritik - und trotzdem Bejahung.
Der evangelischen Kirche fiel es lange Zeit schwer, ein positives Verhältnis zu den Heiligen zu gewinnen. Zu stark war das Bedürfnis einer negativen Standortbestimmung gegenüber dem Katholizismus. Das scheint sich zu ändern.
"Inzwischen hat man auch in evangelischen Kirchen entdeckt, dass die Verehrung Martin Luthers, Dietrich Bonhoeffers oder Martin Luther Kings nicht so weit von dem entfernt ist, was man protestantischerseits als 'Heiligenkult' verwerfen zu müssen meinte. ... Und seit wir das Christentum wieder als Religion verstehen können, ist uns der Zugang zu derlei Erscheinungen nicht mehr verstellt." (Dietrich Stollberg)
So enthält des Evangelische Gesangbuch - das ja viele erstaunliche Dinge in sich birgt - auch jenen bemerkenswerten Text aus der Confessio Augustana, in dem Philipp Melanchthon über die Heiligen folgendes festgehalten hat:
"Vom Heiligendienst wird von den Unseren so gelehrt, dass man der Heiligen gedenken soll, damit wir unseren Glauben stärken, wenn wir sehen, wie ihnen Gnade widerfahren und auch wie ihnen durch den Glauben geholfen worden ist; außerdem soll man sich an ihren guten Werken ein Beispiel nehmen, ein jeder in seinem Beruf...
Aus der Hl. Schrift kann man aber nicht beweisen, dass man die Heiligen anrufen oder Hilfe bei ihnen suchen soll. "Denn es ist nur ein einziger Versöhner und Mittler gesetzt zwischen Gott und den Menschen, Jesus Christus" (1.Tim 2,5). Er ist der einzige Heiland, der einzige Hohepriester, Gnadenstuhl und Fürsprecher vor Gott (Röm 8,34). Und er allein hat zugesagt, dass er unser Gebet erhören will.
Nach der Hl. Schrift ist das auch der höchste Gottesdienst, dass man diesen Jesus Christus in allen Nöten und Anliegen von Herzen sucht und anruft: "Wenn jemand sündigt, haben wir einen Fürsprecher bei Gott, der gerecht ist, Jesus" (1.Joh 2,1)" (zit. nach EG 808)
Die Bekenntnisschrift markiert deutlich die Grenze eines verantwortlichen Umgangs mit den Heiligen: Sie dürfen nicht zu einer heilsnotwendigen Mittlerinstanz aufgebaut werden. Wohl aber sind sie nützlich als Leitbilder, als Beispiele christlicher Lebensführung.
Es ist dies letztlich die gleiche Einschätzung, die sich auch bei Hilde Domin findet: Die Heiligen sind es müde, "Rammbock vor dem Beter zu sein", aber ihre Lebensbilder und Legenden sich wichtig, damit es in der lebenslangen Schule des Glaubens etwas Anschauliches und Fassbares gibt.
Für die meisten Menschen ist Wahrheit keine Sache von abstrakten Gedanken, sondern sie verkörpert sich in Personen, die emotionale Identifikationen zulassen. Im Leben der Heiligen zeigt sich christliche Existenz zu einer Komplexität verdichtet, wie sie sich in einem begrifflichen Diskurs kaum erreichen lässt. Von daher ist es sicher sinnvoll, Heiligengestalten bisweilen zum Thema der Verkündigung und auch des gottesdienstlichen Feierns zu machen.
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